Kämpferisches Auftreten vor Gericht lohnt sich – Bußgelder gegen Aktivistin von 700€ auf 200€ reduziert

Weil sie in den Jahren 2008 und 2009 drei Kletteraktionen gegen Atomtransporte und einen Naziaufmarsch durchführte, wurde eine Aktivistin heute vom Amtsgericht Potsdam zu drei Bußgeldern in Höhe von 25, 75 und 100 Euro verurteilt. Morgen stehen weitere Prozesse gegen Atomkraftgegner vor dem Amtsgericht Potsdam an.

Mit sichtlichem Desinteresse verfolgte Richterin Ahle die Verhandlung gegen die Aktivistin Cécile Lecomte. Diese erläuterte umfangreich die Risiken der Atomkraft und insbesondere von Atomtransporten und erntete dafür Zuspruch des zahlreich erschienenen solidarischen Publikums. Auch die Ausführungen der Wahlverteidigerin Hanna Poddig zu den rassistischen Morden des NSU und der Verstrickung des Staates in Nazistrukturen sowie der daraus resultierenden Notwendigkeit antifaschistischen Widerstands wurden vom Publikum gespannt verfolgt.

Der heutige Fortsetzungstermin verlief juristisch ganz in der Tradition des ersten Verhandlungstages: Es gab wieder eine Sicherheitsverfügung, in der verboten wurde, Aufkleber mit in den Gerichtssaal zu bringen oder vor dem Gerichtsgebäude zu protestieren. Dagegen versuchte sich die Betroffene per Eilantrag an das Verwaltungsgericht zu wehren, die Entscheidung fiel jedoch erst nach Prozessende. „Die Anordnung des Landgerichtspräsidenten wurde erst eine Stunde vor Prozessbeginn aufgehängt, zuvor hatte ich davon keine Kenntnis. Da darin Sofortvollzug angeordnet wurde, blieb mir nur der Weg vor das Verwaltungsgericht um dagegen vorzugehen. Dort wurde allerdings nicht schnell genug darüber entschieden, weshalb ich faktisch keinerlei Rechtsmittel gegen die in meinen Augen rechtswidrigen und einschüchternden Kontrollen hatte. Ich habe den Eindruck, dass die Anordnung absichtlich so knapp vor Prozessbeginn erst veröffentlicht wurde, damit ich mich dagegen nicht wehren konnte“ so die Betroffene.

Es wurden zahlreiche Beweisanträge gestellt, die alle abgelehnt wurden. „Sowohl Beweis- als auch Befangenheitsanträge hat Richterin Ahle fließbandmäßig und mitttels vorgedruckter Ankreuzformulare sämtlich abgelehnt. Sie hatte offensichtlich kein Interesse an einer ernsthaften Sachaufklärung, wollte keine weiteren Zeugen laden und den Prozess möglichst schnell vom Tisch haben“ so die Verteidigerin. Richterin Ahle verurteilte nach dreistündiger Verhandlung schließlich zu Bußgeldern von 25, 75 und 100 Euro. Verglichen mit den ursprünglich geforderten 100, 100 und 500 Euro ist das immerhin eine Reduktion von 700 auf 200 Euro, was Betroffene und Verteidigerin als eindeutigen Erfolg ihrer kämpferischen Strategie bewerten. „Das Urteil hat uns nicht überrascht, das Gericht interessiert sich weder für Verletzungen des Versammlungsrechts noch für die zahlreichen weiteren juristischen Fragen, die wir angeschnitten haben. Rechtsmittel gegen die Verurteilungen wurden eingelegt, unseren Willen weiter zu kämpfen und Aktionen zu machen bremst das aber nicht“ so Poddig.

Am morgigen Donnerstag wird es zu vier weiteren Prozessen gegen politische Aktivisten kommen, denen ebenfalls Verstöße gegen die Eisenbahn-Bau-und-Betriebsordnung vorgeworfen werden.

Anträge und Erklärungen aus dem heutigen Verfahren:

http://blog.eichhoernchen.fr/post/Rechtssprechung-mit-Ankreuzformular-in-Potsdam

Mehr zum Thema Laienverteidigung: laienverteidigung.de.vu

 

 

 

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1 Antwort zu Kämpferisches Auftreten vor Gericht lohnt sich – Bußgelder gegen Aktivistin von 700€ auf 200€ reduziert

  1. hanna sagt:

    Stellungnahme zur Kein-Bock-auf-Nazis-Kletteraktion aus dem heutigen Prozess
    In der Akte zum Vorwurf der Kletteraktion anlässlich eines NPD-Aufmarsches in Lüneburg wird der Begriff „Nazi“ in Anführungszeichen gesetzt. Dies deutet schon auf eine Richtung hin, in die ermittelt wurde. Die Anführungszeichen wurden in diesem Fall ganz deutlich nicht zum zitieren, sondern in modalisierender Funktion verwendet, also um den Sinn zu entkräften oder gar lächerlich zu machen und ins ironische zu ziehen. Die Problematik von Neofaschismus und Rassismus in dieser Gesellschaft ist aber alles andere als eine zu verharmlosende Kleinigkeit.
    Um den durch die Akte möglicherweise entstehenden Eindruck zu widerlegen und die Motivation für das Handeln der Betroffenen zu verdeutlichen, möchte ich an dieser Stelle ausführlicher darauf eingehen, warum Engagement gegen Nazis notwendig ist und wir uns mitnichten auf den Staat als Akteur verlassen können. Prozessrelevant ist dies im Hinblick auf die Sozialadäquanz sowie zur Strafzumessung. Zu prüfen wäre darüber hinaus auch, ob in diesem Fall der §16 OwiG, also der rechtfertigende Notstand, Anwendung finden müsste.
    Werfen wir also zunächst nocheinmal einen kurzen Blick auf den Paragrafen 16 OWiG:

    „Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Handlung begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt.
    Dies gilt jedoch nur, soweit die Handlung ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.“

    Es muss nun also erstens eine Gefahr für Leib, Leben, etc vorliegen, also ein Notstand. Ist nicht das Wort „Notstand“ angesichts von staatlich finanzierten und durch V-Leute unterstützten rassistischen Mordserien schon eine Untertreibung als Beschreibung für den Zustand der Gesellschaft in der wir momentan leben? Als die Kletteraktion stattfand, also im April 2009, waren die Machenschaften des NSU der Öffentlichkeit noch nicht bekannt. Sämtliche dem NSU zugeschriebenen Morde waren hier jedoch bereits begangen.

    Werfen wir anhand eines Artikels einen genaueren Blick auf den NSU und dessen staatliche Helfer:

    NSU: Nazis morden, der Staat mischt mit

    13 Jahre lang verübten Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt nach derzeitigem Kenntnisstand als „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) mindestens 10 Morde, mehrere Sprengstoffanschläge auf Wohnhäuser sowie diverse Banküberfälle. Am 04.11.2011 wurden Böhnhardt und Mundlos tot aufgefunden, Zschäpe stellte sich wenige Tage darauf der Polizei. Diese nüchterne Bilanz kann das ganze Ausmaß des tatsächlich ausgeübten Terrors nicht mal annähernd darstellen. Weder für die konkreten Opfer und deren soziales Umfeld, noch für die Millionen potentiell Betroffenen, denen die Morde galten. Laut einer repräsentativen Umfrage glauben 40% der Menschen, die mit „türkischem Migrationshintergrund“ markiert werden, dass sie selbst oder Bekannte Opfer von Neonazimorden werden könnten.
    Der Tod der beiden Männer und die Verhaftung von Zschäpe sind kein Anlass mit der Aufarbeitung des NSU abzuschließen. Ganz im Gegenteil, viel zu viele Fragen sind bisher unbeantwortet oder noch gar nicht gestellt worden. Die eigentliche Auseinandersetzung mit der Frage, wie sich eine derartige Gruppierung unbehelligt über Jahre hinweg durch die Republik morden konnte, fängt jetzt erst an. Besonders undurchsichtig, verworren und vor allem fragwürdig scheint bei dem ganzen Geschehen die Rolle des Staates – sowohl vor der Enttarnung des NSU, als auch hinterher.

    Staatliches Handeln im Kontext des NSU
    Bevor Zschäpe, Mundlos und Bönhardt als NSU aktiv wurden, waren sie Mitglieder des sogenannten Thüringer Heimatschutzes (THS). Dieses Neonazinetzwerk galt Mitte der 90er Jahre als eines der bestorganisiertesten Netzwerke Deutschlands und als beispielgebend für parteiungebundene Freie Kameradschaften. Allerdings galt es auch als eines der Netzwerke, die am meisten durch den Verfassungsschutz (VS) überwacht wurden. Herausstechend ist hierbei vor allem Tino Brandt, der als Gründer und Kameradschaftsführer des THS fungierte und jahrelang als V-Mann für den Geheimdienst arbeitete. Nach eigenen Angaben hat er die dabei „verdienten“ 200.000 DM zur Finanzierung eben jener Nazistrukturen eingesetzt. In dieser Zeit wurden gegen die späteren NSU-Mitglieder bereits Ermittlungsverfahren unter anderem wegen Sprengstoffdelikten geführt, in deren Zusammenhang die drei abtauchten und ihre Pläne von einer neonazistischen Terrorgruppe in die Tat umsetzen konnten.
    Vor dem 04. November letzten Jahres und der damit einhergehenden schnellen Zuordnung der Täter*innenschaft wurde ein rassistischer Hintergrund der Morde seitens der Polizei nicht mal in Erwägung gezogen. Im Gegenteil wurde in rassistischer Manier – von den Medien unhinterfragt – die Sonderkommission „Bosporus“ und die Mordserie als „Döner-Morde“ benannt. Letztere Bezeichnung setzt offensichtlich die Opfer mit einem ethnisierten Fast-Food-Gericht gleich und legt damit nahe, dass gar keine Menschen ermordet wurden. Die Opfer wurden so ihrer Individualität beraubt und durch die Gleichsetzung mit anonymem Dönerfleisch abgewertet. Übrigens haben lediglich 3 der 10 Toten in einem Imbiss gearbeitet.
    Ermittelt wurde vermeintlich in alle Richtungen – entweder sei es die türkische Mafia gewesen, oder die Opfer wären in Rauschgiftschmuggel involviert – oder am besten gleich beides. Angehörige von Mehmet Kubasik aus Dortmund wurden durch die Polizei sogar zum Drogentest bestellt um die aufgeworfene These der organisierten Kriminalität zu bestätigen. Durch ihr Vorgehen behandelte die Polizei einerseits die Angehörigen aller Opfer mit einer rassistischen Ignoranz und schürte andererseits gesellschaftlichen Rassismus, indem sie die Opfer selbst in eine kriminelle Ecke stellte. Angesichts dieser Herangehensweise der Polizei lässt sich durchaus vermuten, dass sie nicht nur blind war für andere Motive, sondern diese aktiv ausblendete. Dadurch, dass die Opfer in eine kriminelle Ecke geschoben wurden, wurde gleichzeitig versucht zu vermitteln, dass ihr Tod weniger schlimm und sie selbst auch Schuld an diesem seien könnten. Außerdem erhalten so eben jene weißen deutschen Täter*innen Legitimität für ihr menschenverachtendes Handeln.
    Der derzeitige Kenntnisstand lässt allerdings sogar noch schlimmeres vermuten. Nach bisherigen Medienberichten und Zugeständnissen waren staatliche Organe in vielfacher Weise in die Tätigkeiten und Strukturen des NSU verwoben. Ein paar Erkenntnisse sollen dies verdeutlichen:
    Im Jahr 2000 wollten Fahnder nach einer Observation ein Zwickauer Haus stürmen, in dem sich der NSU aufhielt, was das Thüringische Innenministerium kurz vor dem Zugriff verhinderte.
    Zwischen 2000 und 2006 gibt es mehrere Aktennotizen, in denen das Thüringer Innenministerium die geplanten Festnahmen von Zschäpe, Mundlos und Bönhardt verhinderte.
    Bei mindestens einem Mord befand sich ein V-Mann am Tatort. Dieser meldete sich erst nach einer Woche untertauchen als Zeuge.
    Beate Zschäpe konnte sich am 03.10.2008 unter den Augen von hunderten Polizist*innen ungehindert auf einem Naziaufmarsch im sächsischen Geithain bewegen und sogar 2007 als Zeugin unter falschem Namen bei der Zwickauer Polizei aussagen, ohne festgenommen zu werden.
    Bei der Beschaffung sogenannter „legal-illegaler“ Pässe mischte der thüringische VS mit, indem er über V-Leute 2000 DM in Richtung NSU leitete. Die erhofften Erkenntnisse wurden nicht gewonnen, da der VS es unterlassen hatte die zuständigen Behörden zu informieren.
    Die Liste ließe sich erweitern. Doch das soll an dieser Stelle reichen, um deutlich zu machen, dass der Staat mehrfach die Möglichkeit hatte, die Nazis festzunehmen und damit die Morde an 10 Menschen zu verhindern.
    Auch nach der Aufdeckung des NSU hinterlassen die Reaktionen von offizieller Seite Sprachlosigkeit bei uns. Reflexartig wird wieder mal eine neue Qualität rechter Gewalt ausgemacht. Vergessen scheinen offensichtlich die Pogrome Anfang der 90er Jahre in Deutschland, die über 150 Toten durch neonazistische Gewalt seit der Wende oder gar die 70 Morde in Norwegen im Sommer 2011.
    Statt einer Auflösung des VS wird sogar eine Stärkung und Ausweitung dessen gefordert und bereits an der Umsetzung gearbeitet. Als wäre der VS lediglich zu schlecht ausgestattet und nicht tief in die Mordserie verstrickt. Die Opfer des NSU werden hierdurch weiterhin instrumentalisiert, um den Ruf nach mehr Überwachung, Ausbau von Geheimdiensten und sogar der Vorratsdatenspeicherung wieder laut werden zu lassen. Als ob diese Instrumente irgendetwas verhindert hätten. Nicht fehlende Informationen über die Nazis waren das Problem, sondern vielfältige politische Fehlentscheidungen.
    Auch die erneute Debatte über ein NPD-Verbot wirkt scheinheilig und ist eher Ausdruck von blindem Aktionismus, als ein durchdachtes Agieren gegen Rechts. Auch wenn die genaue Verstrickung von NPD‘lern und dem NSU noch aufzuklären sein wird, bleibt festzustellen, dass die drei auch ohne NPD agiert haben. Die Partei übrigens, die maßgeblich vom VS am Laufen gehalten wird. Arbeitet doch jede siebte Funktionsperson für den Geheimdienst.
    Eine ernstzunehmende Auseinandersetzung würde fragen, welche Funktionen staatliche Organisationen in dem gesellschaftlich verankerten Rassismus erfüllen. Es gibt vielfältige Formen institutionalisierten Rassismus, wie rassistische Sondergesetzgebung, Abschiebung und tödliche Flüchtlingsabwehr.

    Und was machen wir?
    Leider ist auch in der Bevölkerung kaum eine Reaktion erkennbar. Eine Bestürzung fand lediglich medial statt, vereinzelte kleine Demonstrationen und Kundgebungen, die sich mit den Opfern und ihren Angehörigen solidarisch zeigten, erhalten kaum Zulauf und Unterstützung. Sicherlich wird es dadurch begünstigt, dass der ganze Themenkomplex schwer erfassbar und die Rolle der Geheimdienste und Ermittlungsbehörden undurchsichtig ist. Das beständige Kleinreden der Naziszene oder rassistischer Denkstrukturen in der Mehrheitsgesellschaft scheint das, was nicht sein darf, in den Köpfen als Möglichkeit pauschal auszuschließen: Sowohl die Möglichkeit, dass Polizisten Oury Jalloh in seiner Zelle getötet haben, als auch, dass organisierte Nazis sich durch die Republik morden, als auch, dass der Verfassungsschutz Nazistrukturen aufbaut und aufrecht erhält. An diesem Punkt haben die Bevölkerung und die Medien versagt, weil sie zu keinem Zeitpunkt die öffentliche Darstellung der Morde hinterfragt, sondern sich bequem auf das Erklärungsmodell „organisierte Kriminalität“ eingelassen haben. Auch die Bevölkerung konnte sich so einer Auseinandersetzung mit ihren eigenen Rassismen entziehen. Durch das ignorante Ausbleiben gesellschaftlicher Bestürzung nach Aufdeckung der NSU-Taten verschafft die Mehrheitsgesellschaft diesen rassistischen Taten eine enorme Akzeptanz.

    Was bleibt?
    Die Ermordeten kann niemand wieder lebendig machen. Dennoch, oder gerade deswegen, stellt sich die Frage, welche Schlüsse aus dem Geschehenen gezogen werden sollten. Seitens des Staates wäre das Mindeste eine Aufklärung über die Verstrickungen des VS und dessen folgerichtige Abschaffung. Geheimdienste sind demokratiefeindlich und dienen ganz offensichtlich nicht zur Verhinderung von Morden, sondern tragen im schlimmsten Fall sogar zu ihnen bei.
    Doch nicht nur der Staat ist gefordert, sondern auch seitens der Bevölkerung ist ein Umdenken notwendig. Wie kann es sein, dass die Angehörigen der NSU-Opfer weiterhin fast allein demonstrieren und kaum Solidarität erfahren? Wenn es um die Bekämpfung von Rassismus geht, sind wir alle gefragt. Sich auf den Staat zu verlassen ist feige, ignorant und gefährlich. Auf ihn ist kein Verlass, wenn es gegen Nazis geht. Im Gegenteil, statt gegen diese, geht es immer wieder gegen antifaschistische Initiativen vor. Deswegen ist es die Aufgabe der sogenannten Zivilgesellschaft gegen Nazis aktiv zu werden und deswegen sollte antirassistisches und antifaschistisches Engagement auch immer selbst- und staatskritisch sein.
    Quelle: https://365.blogsport.de/zeitung/nsu/

    Wurde nach dem für drei Menschen tödlichen Brandanschlag in Mölln vor 20 Jahren immer wieder beteuert, die gesellschaftliche Stimmung habe sich gewandelt, faschistischen Umtrieben sei Nährboden entzogen worden, Zivilcourage habe zugenommen etc. belegen nicht zuletzt die NSU-Morde und deren Akzeptanz innerhalb rechter Szene sowie die alltäglichen staatlichen wie nichtstaatlichen Angriffe auf Menschen mit Migrationshintergrund das Gegenteil. Menschen, die nicht „deutsch“ aussehen – was auch immer das sein soll – müssen in permanenter Angst leben. Was sonst sollte einen „Notstand“ ausmachen, wenn nicht eine permanente Bedrohungs- und Gefahrensituation für geschätzte sieben Millionen Menschen allein in Deutschland?

    Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass ein Notstand vorliegt und von staatlicher Seite nicht mit Abhilfe zu rechnen ist. Bliebe nun also die Frage, ob das geschützte Interesse das beeinträchtigte Interesse überwiegt. Wägen wir ab: Ein Transparent auf einem Dach im Rahmen einer Demonstration gegen Nazis, verbunden mit keinerlei Sachschaden beeinträchtigt – ja, was eigentlich? Es beeinträchtigt das Interesse der Bahn daran, ein protestfreier Raum zu sein. Dem steht das Interesse gegenüber, Nazis nicht kampflos die Straßen zu überlassen und ihnen damit Raum zu gewähren, ihre menschenverachtenden Inhalte zu transportieren und sich gegenseitig darin zu stärken, sich zu vernetzen etc. Auch diese Abwägung ist zweifelsfrei eindeutig. Umso mehr, angesichts der Rolle, die die Bahn im dritten Reich innehatte, immerhin ist die heutige DB-AG der direkte rechtliche Nachfolger der nach 1945 in deutsche Bundesbahn umbenannten deutschen Reichsbahn.

    Darüberhinaus müsste geklärt werden, ob Kletteraktionen wie die hier verhandelte in der Lage sind, dieses Übel abzuwenden. Selbstverständlich ist eine einzelne Kletteraktion nicht in der Lage, gesellschaftlich tief verwurzelten Rassismus zu beenden. Gesellschaftlicher Wandel entsteht aus der Summe von Aktivitäten vieler entschlossener und couragierter Menschen an vielen Orten und eben davon ist die hier verhandelte Aktion eine. Nichtsdestotrotz ist es dem entschlossenen Protest der Menschen aus Lüneburg zu verdanken, dass die Nazis an diesem konkreten Tag nur wenige Meter marschieren konnten und dann kehrt machen mussten. Ohne den entschlossenen Einsatz dieser Menschen, wären die Nazis durch Innenstadt und Wohnsiedlungen marschiert. Daran dass es so weit nicht kam, hat diese Aktion ebenfalls Anteil.

    Das Gericht wird dieser Argumentation mit nahezu 100%iger Sicherheit nicht folgen, womit einmal mehr bewiesen wäre, wem Gerichte nützen und wen sie schützen.

    Die Generation unserer Großeltern hätte es vermutlich nicht für möglich gehalten, dass es so schnell wieder so notwendig werden würde, zu betonen: Wehret den Anfängen!

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