Ausgedachte Beleidigung: „Sie, Bulle“

13.5.21: Wir sind mit einer kleinen Gruppe Menschen auf dem Rückweg von einer Demo und warten auf unseren Zug. Es ist Pandemie, also gehen wir aus dem Bahnhofsgebäude, überqueren den Vorplatz und setzen uns unter ein Vordach am Hintereingang eines Hotels in einer Seitenstraße, packen etwas Essen aus.

Ein Polizeiauto hält an. Woher wir kämen will eine Polizistin aus dem Auto heraus wissen. Von einer Demo antworten wir. Von welcher wir kämen fragt die Beamtin nun, obwohl sie es bereits weiß. Sie hatte uns optisch bereits dem linken Spektrum zugeordnet und war nur wegen unserer Anwesenheit gerufen worden. Aber das sollten wir erst später aus den Akten erfahren.

Wir bleiben eine Antwort schuldig. Sie steigt aus und fragt, warum wir ihre freundlichen Nachfragen nicht beantworten würden, wir seien als Demoteilnehmende ja potentiell schützenswert. Wir können und wollen uns das Lachen nicht verkneifen. Uns schützen? Wovor das denn? Wir stellen die Gegenfrage: Ob sie das ernst meine, was sie da sage. Sie möge sich bitte einmal selbst zuhören.

Das scheint ihr nicht zu gefallen. Sie will unsere Personalien. Wir starten eine Diskussion um die rechtliche Unzulässigkeit einer Personalienkontrolle. Immerhin hatte die Polizistin zuvor ja selbst noch mit ihrer Rückfrage bescheinigt, dass auch sie davon ausging, dass wir von einer Demo kamen. Wir erläutern also, dass Versammlungen polizeifest sind und auch der Rückweg von einer Demo vom Versammlungsrecht geschützt sei. Und Personalien der Demoteilnehmenden kontrollieren ohne konkreten Vorwurf ist nicht legal.

Sie erwidert, hier sei ein gefährlicher Ort, da dürfe sie ohne Angabe von Gründen Personalien kontrollieren. Wir erwidern, dass hier eine Gesetzeskonkurrenz vorliege, aber das Versammlungsrecht das höhere Gut sei. Sie bleibt dabei, sie dürfe das und geht auf das vorgebrachte Argument nicht ein. Warum sie nicht einfach gehen würde, wird sie nun gefragt und antwortet, sie sei im Einsatz und wir seien ihr Einsatz. „Sie geben mir jetzt ihren Ausweis“ sagt sie nun. Auf das erneute Gegenargument mit der Demo sagt sie wieder, an gefährlichen Orten dürfe sie das.

Tatsächlich erlaubt das Polizeirecht in Schleswig-Holstein die Einrichtung von Gefahrengebieten und rund um den Kieler Hauptbahnhof ist ein solches. Dauerhaft. Obwohl das Gesetz eigentlich betont, so ein Gefahrengebiet sei eine befristete Sache. Eingerichtet werden darf es, um Straftaten zu verhindern bei denen Leib und Leben oder die Freiheit bzw ähnlich gewichtige Sachen gefährdet sind.

Auf Kritik an der Einrichtung solcher Gefahrengebiete betonte das Innenministerium 2014 noch, es sei „keine ereignis- und anlasslose Kontrollmöglichkeit, sondern verlangt valide Lageerkenntnisse auf Straftaten von erheblicher Bedeutung in einem bestimmten Gebiet“, wahllose Kontrolle aller Bürger sei dadurch nicht ermöglicht. „Selbstverständlich“ so wurde damals betont, nutze die Polizei diese Sonderbefugnisse also nur gegen „solche Personen, die in die „Suchkoordinaten“ passen, aus deren Grund ein Gefahrengebiet eingerichtet wurde.

Eine Polizistin, die weiß, dass eine Personengruppe von einer Demo kommt, nutzt Kontrollsonderrechte, die explizit nur zur Verhinderung schwerer Straftaten eingeräumt wurden, um ihr missliebige politische Menschen zu kontrollieren. Als „linkes Klientel“ sind wir den Ermittlungsbehörden allgemein suspekt und wir passen offensichtlich auch in die „Suchkoordinaten“ dieser Polizistin. Aber dass wir schwere Straftaten planen würden hat auch sie selbstverständlich nie angenommen. Aber die daraus abgeleiteten Sonderbefugnisse passen ihr gut. Nur dass die Befugnis, Personalien „einfach so“ zu kontrollieren überhaupt nicht enthalten ist in den Sonderbefugnissen an „gefährlichen Orten“. Ein gefährlicher Ort erlaubt das Anhalten von Personen und die Inaugenscheinnahme mitgeführter Gegenstände. Eine über die sonst im Polizeirecht bestehenden Voraussetzungen für Identitätsfeststellungen hinausgehende Befugnis zur Ausweiskontrolle gibt es jedoch auch an gefährlichen Orten nicht.

Das Innenministerium dazu: „Die Polizei darf in Gefahrengebieten anhalten und in Augenscheinnehmen, nicht aber die Personalien feststellen oder durchsuchen. Nur wenn bei der konkreten Kontrolle weitere Verdachtsindikatoren in Bezug auf die Gefahrensituation oder die zu verhindernde Straftaten auftreten, dann sind weitergehende Maßnahmen nach Polizeirecht und / oder Strafrecht erlaubt.“

Die Debatte geht weiter. Wir könnten ja ihre Chefin unter 110 anrufen, die würde uns bestätigen, dass sie befugt sei Personalien aufzunehmen. Mittlerweile hat sie auch Verstärkung gerufen. Um uns alle zu kontrollieren, sind jetzt acht Polizist*innen vor Ort. Sie bekommen schließlich von einigen von uns Personalien. Wir sind sauer und genervt und wollen eine Spontandemo durchführen gegen diese Maßnahme. Das ginge nicht, wir hätten ja bereits zuvor Platzverweise erhalten, sagt sie nun. Das gleiche Spiel von vorne: Polizeifestigkeit von Versammlungen bedeutet, dass ein Platzverweise nicht bedeutet, dass Menschen in dem Geltungsbereich des Platzverweises keine Demo machen dürften. Doch, weil der Platzverweis ja vor dem Wunsch nach einer Spontandemo ausgesprochen worden sei, meint sie. Na klar ist das so, wir wollen ja auch gegen willkürliche Platzverweise demonstrieren. Und das geht erst nach erhaltenen Platzverweisen ist aber auch formaljuristisch vollkommen egal. Als uns nun angedroht wird, dass wir auf die Wache mitgenommen werden, verzichten wir darauf, weiter an unserer Demo festzuhalten und kommen den Platzverweisen nach. Begründet worden waren die natürlich auch nicht. Und, aber das nur der Vollständigkeit halber: auch ein Platzverweis darf nur zur Abwehr einer im Einzelfall bevorstehenden Gefahr bzw zur Unterbindung von Straftaten ausgesprochen werden.

Soweit so absurd. Zwei der Beteiligten erhalten später Post. Darin ist vom gefährlichen Ort keine Rede mehr. Eine Person soll die einsatzleitende Polizistin beleidigt haben. „Sie Bulle“ sei angeblich gebrüllt worden, aber ihr Kollege habe das nicht gehört, außer ihr selbst gebe es keine Zeug*innen. Dem Amtsgericht reicht die Aktenlage um einen Strafbefehl zu erlassen. Eine zweite Person bekommt Post mit dem Vorwurf, sich nicht an die Maskenpflicht gehalten zu haben, die per Allgemeinverfügung auf dem Bahnhofsvorplatz gegolten habe. Nur war die Auseinandersetzung garnicht im Geltungsbereich der Verfügung, sondern in einer Seitenstraße, und zudem gibt es in der Verfügung eine explizite Erlaubnis, die Maske zum Essen abzunehmen. Trotzdem reicht es der Stadt, um einen Bußgeldbescheid zu erlassen.

Terminhinweis:

Der Prozess wegen der angeblich gefallenen Beleidigung findet am Montag den 8.11. 2021 um 13.00 Uhr am Amtsgericht Kiel statt.

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