Oben ohne im Gericht

Bericht von einer wirklich überflüssigen, aber sehr lustigen Gerichtsverhandlung, in der die meisten Anwesenden weniger Kleidung tragen als es die Norm ist. Weil es im vorausgegangenen Strafprozess, an dem sich die aktuelle Verhandlung aufhängt, um Anti-Atom-Protest bei der Lingener Brennelemente-Fabrik gegangen war, fand die Verhandlung am 08.10.2025 am AG Lingen statt.

Figuren

  • Die Angeklagte. Soll beim Rauswurf aus einer vergangenen Verhandlung kein T-Shirt mehr angehabt haben und trägt ein kriminell gutes Outfit aus bunten Nippelstickern und einem Netzfäden-Oberteil.
  • Die Anwältin der Angeklagten.
  • Richter Dr. Iur. Von Obenherab. Urteilt mit einem sarkastischen Spruch auf den Lippen – und mit dem Holzhammer.
  • Die Staatsanwältin. Namenslose Hüterin des Apparats.
  • Polizeihauptkommissar Folgsam, Zeuge. Hat zuverlässig seinen Bericht auswendig gelernt und versichert, sein Blick habe die Brüste der Angeklagten nur aus dem peripheren Sichtfeld erfasst.
  • Richter Gesamteindruck, Zeuge. Selbst überzeugt davon, das Große und Ganze zu sehen. Erkennt eine Perücke nicht, selbst wenn sie ihm auf dem Kopf sitzt und zwinkert.
  • Wachtmeister Schnüffel, Zeuge. Ordnungsliebender Rentner mit Einsatzdrang. Hat das Amtsgericht Lingen nie so ganz verlassen und kennt jeden, der einmal zu laut gelacht hat.

Ablauf der Verhandlung

Vor Eröffnung (9 Uhr)

Im Zuschauerraum des Gerichts müssen sich über Nacht Stühle und eine lange Holzbank rückstandslos aufgelöst haben. Wo anderntags eine 30-köpfige Schulklasse Platz findet, sind noch sieben Stühle und viel Luftraum übrig. Für die Wachtmeister*innen muss das verwirrend sein. Diejenigen oben am Einlass wissen nicht mal, wie die Eintrittskarten aussehen, die unten an der Pforte vergeben werden. Infolgedessen haben sie sich scheinbar bei den verbliebenen Stühlen, den dafür vergebenen Platzkarten und draußen vor dem Gericht anstehenden Zuschauer*innen verrechnet. Mehrere der Stühle sind noch frei und Zuschauer*innen wurden schon abgewiesen. Deswegen soll die Verhandlung verspätet beginnen. Während die meisten noch warten, einigen sich Richter Von Obenherab und Staatsanwältin schon murmelnd gegen einen Eingangsantrag der Staatsanwaltschaft „gegen die freizügige Kleidung der Angeklagten“, die in einem kriminell guten Outfit mit bunten Nippelstickern und einem Oberteil aus Netzfäden erschienen ist. Auch die eintrudelnden Zuschauer*innen sind fabelhaft gekleidet: Sie tragen Minirock, Shirt mit Uterusprint, einen gehäkelten Boho-BH oder zeigen Beine und Behaarung. Richter Von Obenherab dagegen hat sich in ein langes schwarzes Gewand gehüllt. Er sitzt auf einer Bühne unter einem übermenschlich großen Ungetüm aus dunklem Metall, das zwei bis drei Köpfe und fledermausartige Flügel hat, drohend über ihm an die Wand genagelt ist und von dort gepeinigt in den Saal starrt. Diese Gestalt benennt der Richter als »die drei Nornen«, Schicksalsgöttinnen der Nordischen Mythologie. Er feixt darüber, dass er sie im Gegensatz zu allen anderen Personen im Raum nicht andauernd ansehen müsse, verstummt aber auf den Hinweis, dass die finsteren Göttinnen, sollten sie sich von der Wand reißen und nach unten stürzen, ausgerechnet sein Schicksal unglücklich besiegeln würden.

Eröffnung der Verhandlung (9:33 Uhr)

Direkt zu Verhandlungsbeginn bringt die Angeklagte einen Antrag ein, um zusätzlich zu ihrer Anwältin einen Wahlverteidiger zuzulassen. Sie begründet die Wahl unter anderem mit der emotionalen Unterstützung durch eine Vertrauensperson. Die beantragte Person, Simon, sitzt im Raum zwischen den Zuschauer*innen, trägt ein elegantes weißes Hemd und darüber eine extravagante schwarze Bluse mit dezent glitzernden Puffärmeln, die an der Taille kurz geschnitten ist. Die Staatsanwältin, optisch im Partnerlook mit Richter und Nornen in langem dunklem Umhang, findet eine Anwältin sei ausreichend. Die Anwältin der Angeklagten erwidert drei Verteidigerinnen seien zuzulassen.

 

Unterbrechung für 10 Min

Eine Zuschauerin hebt ein „Wachtmeister“-Schild von einem Stuhl auf. Als das Schild versteckt wird, grinst einer der Wachtmeister erwartungsfroh: „Ich kenne dieses Spiel! Ich war als Zivi in einer Kindergartenkrabbelgruppe!“. Trotzdem kann er das Versteck des Schilds nicht herausfinden, und verschenkt es mit den Worten „Das ist mir zu blöd, du kannst es behalten“ an die Zuschauerin.

Fortsetzung (9:50 Uhr)

Der Richter verkündet, die Wahlverteidigung sei abgelehnt, weil bereits eine Anwältin vorhanden sei. Außerdem fände er den Wunsch der Angeklagten nach emotionaler Unterstützung nicht glaubwürdig, da dieser erst jetzt geäußert worden sei. Als die beantragte Verteidigung sich dazu äußern will, droht der Richter mit Saalverweis.

Die Anwältin beantragt den Ablehnungsbeschluss aufzuheben. Dieser stünde entgegen aller höheren Rechtsprechung und sei unhaltbar, weil er nicht mit dem einzig eventuell kritisch abwägbaren Punkt, nämlich Bedenken gegen den abgelehnten Verteidiger als Person, begründet sei. Außerdem könne jeder Angeklagter, der mehr Geld habe, hier problemlos mit drei Verteidigerinnen sitzen. Das sei ungerecht.

Die Staatsanwältin wiederholt, emotionale Unterstützung sei kein Zulassungsgrund und die erforderlichen Sachkenntnisse nicht erwiesen, und schließt erregt mit: „Ich habe das jetzt gesagt! Und damit ist gut!“.

Unterbrechung (2 Min)

Quer durch den Raum befragt der Richter die Person aus dem Zuschauerraum nach Selbststudium und Nachweis, nie strafrechtlich aufgefallen zu sein.

Fortsetzung

Der Richter hält den Beschluss über die Ablehnung der Wahlverteidigung aufrecht. Er verkündet: „Die Angeklagte hat bereits…“ – legt dann Sarkasmus in seine Stimme – „eine soweit das Gericht beurteilen kann fachkundige Verteidigung.“ Daraufhin verliest die Angeklagte eine Beschwerde, in der sie auf den Bruch der Europäischen Menschenrechtskonvention durch die Ablehnung ihrer Verteidigung verweist. Ihre Anwältin beantragt eine sofortige Aussetzung des Verfahrens. Der Richter beschließt, die Verhandlung weiterzuführen, und beendet seine Ausführung, indem er die Anwältin anfährt: „Nein! Jetzt rede ich!“. Ihm scheint dann aber doch nicht einzufallen, was er jetzt eigentlich sagen will. Jedenfalls beginnt er die Personalien der Angeklagten mit der Akte abzugleichen. Allerdings möchte die Angeklagte in diesem Moment aufgrund der Fragen, die es aufwerfen muss, wenn die Wahl eines Verteidigers verwehrt wird, einen Befangenheitsantrag stellen. Die Anwältin beantragt eine kurze Unterbrechung der Verhandlung, nach der der Antrag verlesen und direkt gefaxt wird. Anschließend befragt der Richter die Angeklagte nach Familienstand und Nationalität. Sie antwortet, dass sie Grenzen und Nationalstaaten ablehne. Im Anschluss stellt die Angeklagte einen Antrag auf die Verwendung gendergerechter Sprache in der Hauptverhandlung. Während sie erklärt, wie diese zum Abbau patriarchaler Denkweisen auch an Gerichten beitragen könne, betrachtet der Richter vor sich ausgebreitete Zettel, bearbeitet diese mit einem Stift und schweift mit seinem Blick aus dem Fenster. Nur sein Fenster lässt das zu, denn alle anderen Fenster des Raums werden von einem Licht- und Sichtschutz verdeckt. Als während der nächsten Unterbrechung ein Zuschauer diesen Lichtschutz öffnen möchte, entstehen Verblüffung, Verwunderung und Verwirrung des Gerichtspersonals – dann wird das mit einem lauten Nein!-Schrei verboten. Zum Glück finden die Zuschauer*innen einen Ort, von dem auch sie zwischendurch ins Sonnenlicht blinzeln
können. Dazu klettert mensch auf die Fensterbank und setzt sich auf die Außenseite des Sichtschutzes in die Fensteröffnung.

Der Richter lehnt gerade den Antrag auf gendergerechte Sprache ab, als eine Person im Publikum unvorhergesehen nach vorne tritt und posed. Mit einer schwungvollen Bewegung streift sie ihre lange Hose ab, sodass der dünne Stoff elegant durch die Luft weht. Die Person steht jetzt in einer neonpinken Unterhose in der Mitte des Raums. Als ginge sie auf einem Laufsteg, läuft sie dann in Richtung der Tür. Kurz bevor sie den Raum verlässt, hört man den Richter rufen: „aber… SEXY ARSCH!“. Wenige Augenblicke später eilt der Richter der Zuschauer*in nach und folgt ihr über den Flur.

Fortsetzung (10:41 Uhr)

Die Staatsanwältin verliest den Strafbefehl über 60 Tagessätze. Die Angeklagte soll in einer anderen Verhandlung trotz mehrfacher Aufforderung, den Sitzungssaal zu verlassen, dieser nicht nachgekommen sein, auch nicht als die Polizei zu Hilfe gerufen wurde. Vorgeworfen wird der Angeklagten Hausfriedensbruch.
Dann wird der erste Zeuge, Polizeihauptkommissar Folgsam, aufgerufen. Die Tür öffnet sich. Musik ertönt. Ein Zuschauer, der polizeiblaues Hemd, polizeiblaue Krawatte und eine schwarze Kappe trägt, beginnt in einem fließenden Tanz zu strippen. Gewandt öffnet er Krawatte und Hemdknöpfe. Mehrere Wachtmeister versuchen ihn zu packen und aus dem Raum zu zerren, als er das Hemd von seinen Schultern streift. Nachdem der strippende Zuschauer den Raum in Begleitung zweier vollständig bekleideter Wachtmeister verlassen hat, droht der Richter der Angeklagten mit der Entziehung des Laptops. Dann erkundigt er sich aber doch noch schnell nach dem Titel des abgespielten Songs (etwas von den »Toten Crackhuren aus dem Kofferraum«).

Anschließend beginnt der Zeuge PHK Folgsam mit seinem Vortrag. Am Tattag habe er eine Versammlung im Innenhof des Gerichts beschützt. Um 17:10 Uhr sei er von einem Gerichtswachtmeister wegen eines Ausschlusses einer Zuschauerin im Gebäude angesprochen worden. Im Gerichtssaal habe er eine Frau in der Mitte dreier Personen angesprochen und ihr Zwangsmaßnahmen angedroht. Weil sie wollte, dass die Behandlung von Frauen durchgeführt würde, habe sie ihre Oberbekleidung ausgezogen. Weitere Personen hätten sich in den Weg gelegt. Er habe zwei Kolleginnen geholt, die die Zuschauerin rausgetragen hätten. Danach habe sie ihre Kleidung wiederhaben wollen. Wachtmeister Schnüffel habe im Flur mit ihm besprochen, dass die Person vom Gelände entfernt werden sollte. Weil die Person an der Versammlung im Innenhof teilnehmen wollte, wurde ihr das gewährt. Er habe die Person noch über den Vorwurf Hausfriedensbruch belehrt und ihre Personalien abgefragt.
Als PHK Folgsam an dieser Stelle Uhrzeit, Name, Adresse und Hausnummer der Angeklagten fehlerfrei vorträgt, erklingt aus dem Zuschauerraum ein verblüffter Ausruf.

Auf Nachfrage der Verteidigerin erklärt PHK Folgsam, sich den Polizeibericht, der diese Angaben enthält, am Vortag und etwa eine Stunde vor der Verhandlung eingeprägt zu haben. Es gäbe dazu eine schriftliche „Handlungsanweisung Polizei vor Gericht“.
Auf jegliche Fragen, die er aus seiner Erinnerung beantworten soll, weiß er keine Antwort. Daran, ob noch weitere Zuschauer, eine Staatsanwaltschaft oder ein Richter mit ihm im Raum waren und ob verhandelt wurde, erinnert er sich nicht. Nach einigem Hin und Her bringt PHK Folgsam zusammen, dass als er den Raum betrat dort Richter Gesamteindruck etwas ins Protokoll diktierte und ihn nicht beachtet habe.

Jetzt ruft Richter Von Obenherab rein: „Ich weise den Zeugen darauf hin, dass er zu Schweigen hat.“ Verwirrtes Stimmengewirr ertönt. Der Richter wiederholt den Satz jetzt mit lauter, strenger Stimme. Dann korrigiert er sich, denn er meint das Publikum.

Ob der Zeuge auf die Brüste der Person geschaut habe? „Nie!“, betont PHK Folgsam. Er habe zwar den fraglichen Stift gesehen, aber nicht, ob damit etwas auf die Brüste geschrieben wurde. Er sei für zwei Minuten außerhalb des Saals gewesen, um per Funk die Kolleginnen zu rufen. Und er habe die Kleidung im Raum aufgesammelt und sie der Person folgend hinterhergetragen, sodass er nicht sehen konnte, was vorne auf den Brüsten stand. Dass auf den Brüsten etwas geschrieben stand, wisse er woher? „Aus meiner peripheren Wahrnehmung“.

Lachen erklingt. Richter Von Obenherab verwarnt „alle außer die Dame im Rollstuhl“, und schmeißt eine Person raus, die nicht gelacht hat, weil diese „aber ich habe nicht gelacht“ ausruft. Auf Antrag der Verteidigung wird die Befragung des Zeugen unterbrochen. PHK Folgsam soll in fünf Minuten wiederkommen. In der Vernehmungspause beantragt die Angeklagte, den gerade rausgeschmissenen Zuschauer wieder in den Raum zu holen. Richter Von Obenherab verkündet: „Der Ausschluss der Person wird nicht zurückgenommen.“

In der weiteren Befragung ergibt sich, dass PHK Folgsam damals den Rausschmiss der Zuschauerin, auf die Wachtmeister Schnüffel vor ihm zeigte, umsetzte ohne irgendeine Ahnung zu haben wer das angeordnet hatte und warum. Erst im Nachgang habe er sich mit Wachtmeister Schnüffel über die Geschehnisse unterhalten, weil er unsicher war, ob Personalien für einen Strafantrag benötigt würden. Der Gerichtsdirektor hätte den Antrag ausfüllen müssen, sei an dem Tag aber im Urlaub gewesen. Erst in dieser Unterhaltung hätte er den Grund für die Maßnahme erfahren: ein Mobiltelefon.

Nachdem die Befragung von PHK Folgsam abgeschlossen ist, wird der zweite Zeuge, Richter Gesamteindruck, aufgerufen. Er betritt den Raum, stellt seine offene halbvolle Aktentasche neben dem Tisch für Zeug*innen ab und wird von Richter Von Obenherab begrüßt: „Einen wunderschönen guten Tag!“. Die beiden könnten Zwillinge sein. Beide haben makellose weiße Gesichter, die sofort wieder vergessen sind, eine geradlinige Figur und dunkelblondes Haar. Körperbau und Gesichtszüge beider lassen auf ein Alter Anfang 30 schließen, die Ausdrucksweise jedoch auf einige Jahrzehnte mehr. Haar und Bart tragen sie ähnlich im klassischen Herren-Fassonschnitt und mit Long-Stubble. Richter Gesamteindruck trägt – zum Anlass des Tages völlig unpassend – ausgesprochen unauffällige Kleidung. Er wird als Zeuge mit entsprechend wenig Nachdruck von Richter Von Obenherab belehrt. Dann beginnt er zu schildern: “Die Verhandlung gegen den Angeklagten Simon zog sich in die Länge, schleppend über den ganzen Tag…“
Richter Von Obenherab scheint den Namen Simon wiederzuerkennen und schaut prüfend auf seine Unterlagen. Als er realisiert, dass die vorhin mit Nachdruck beantragte Verteidigung Simon auch der Angeklagte Simon ist, zeigt sich auf seinem Gesicht ein phänomenal witziger Ausdruck. Es wird viel gelacht. Wie schon vorher wählt der Richter offenbar zufällig jemensch aus dem Publikum aus, und lässt zwei Personen rausschmeißen. Während eine der beiden entgegen der Aufforderung auf dem Stuhl sitzen bleibt und sich die Wachtmeister*innen auf sie stürzen, erhebt sich die andere und beginnt gewagt, diverse Kleidungsstücke abzuwerfen. Dabei beißt sie verführerisch auf ihre Platzkarte und wirft aus den Augenwinkeln doppeldeutige Blicke zu jeder im Raum. Jetzt stürzen sich die Wachtmeister*innen auch auf sie. Eine verbliebene Wachtmeisterin deutet auf die auf dem Fußboden verstreuten Klamotten und will sie unter den übrig gebliebenen Zuschauer*innen verteilen. Schließlich grummelt sie: „Dann werde ich die wohl auflesen und hinterhertragen.“

Die Befragung von Richter Gesamteindruck verläuft zäh. Er scheint nur eine Antwort zu kennen, mit der in veränderter Wortwahl auf jede beliebige Frage antwortet, und die so oder ähnlich lautet: Über den Verhandlungstag hätte sich das insgesamt hochgeschaukelt. Es hätte mehrere Störaktionen von den dreizehn Zuschauern in diesem Raum hier gegeben. Auf die Aktion mit dem Handy hätte ihm Wachtmeister Schnüffel hingewiesen. Er konnte kein Handy sehen und hören auch nicht, denn die Zuschauerin saß weit hinten. Er habe die besagte Zuschauerin angesprochen. Auch präventive Aufforderungen seien möglich. Er nahm dann keine Veränderung war. Die Zuschauerin sei, so sein Gesamteindruck, nicht gewillt gewesen. Ob sie etwas sagte, konnte er nicht hören. Sie könnte »Nö« gesagt haben. Sie werde in dem Moment wohl irgendetwas getan oder nicht getan haben, in der Gesamtwahrnehmung habe er das als Störung gewürdigt. Wenn er als Vorsitzender meine, ein Verhalten störe die Verhandlung, sei irrelevant, was konkret. Im Verlauf des Tages habe er auf viele Dinge hingewiesen. Er habe die Zuschauerin des Saales verwiesen.

Die leeren Antworten des Zeugen sind ermüdend. Mittlerweile hat sich eine weitere Zuschauerin ausgezogen und sitzt gelangweilt in Boho-Beach-BH und Strandtuch rum. Trotz der banalen Ausführungen setzt die Verteidigung ihre Befragung tapfer fort: „Haben Sie Wachtmeister Schnüffel beauftragt, diese Weisung umzusetzen?“ – „Das kann sein… Über den Tag gab es immer wieder Zwischenrufe. Als ich die Zuschauerin angesprochen habe, gestaltete sich das nach meinem Dafürhalten als schwierig, also habe ich gesagt: Wenn sie nicht gehen möge, dann soll sie rausbefördert werden.“ – „Sie haben also gesagt, »Wenn sie nicht gehen möge, dann soll sie rausbefördert werden«. Zu wem?“ – „An den genauen Wortlaut kann ich mich nicht erinnern.“ – „Haben Sie es zu Wachtmeister Schnüffel gesagt?“ – „Ich meine nicht wirklich, aber der stand in dem Bereich da hinten bei der Zuschauerin.“ – „Haben Sie es zu den Wachtmeistern oder zu der Zuschauerin gesagt?“. An dieser Stelle hat auch die Staatsanwältin offensichtlich keine Lust mehr auf den Nonsens. Sie unterbricht und will nicht, dass weiter nachgefragt wird, weil der Zeuge alles schon mehrfach wiederholt habe. Die Verteidigung bleibt aber stabil: „Sie können die Frage formal beanstanden, aber im Moment habe ich das Fragerecht.“ Jetzt schreckt Richter Von Obenherab auf, mit den Worten: „Hiermit verbiete ich die Frage… als mehrfache Wiederholung der Frage… “ – „Welche Frage?“, will die Verteidigerin wissen. Der Richter wirkt geistesabwesend. „Welche Frage wurde mir verboten?“, hakt sie nach. Richter: „Die Frage, was der Zeuge zu der Angeklagten gesagt hat.“ – Verteidigerin: „Die habe ich nicht gestellt.“ – Richter: „Das ist egal, das steht jetzt so im Protokoll und dann ist das so!“.
Jetzt gibt es noch einen Befangenheitsantrag, eine Unterbrechung der Verhandlung und der Zeuge soll für die Dienstliche Stellungnahme draußen Platz nehmen.

Unterbrechung (11:42)

Irgendwer muss den Kleiderständer im Publikumsbereich auseinandergenommen haben. Die Staatsanwältin ist wütend, weil ihre Jacke jetzt woanders im Raum liegt als vorher: „Was soll denn das?!“. Sie sagt auch „Das dürfen Sie nicht!“, als ein toller Antifa-Sticker gerade auf die Nornen geklebt werden soll – nur noch wenige Zentimeter fehlen.

Fortsetzung (12:00)

Ein Mann im hellrosa Polo-Shirt stürmt aus dem Richter*innen-Eingang. Im Tonfall eines wütend kläffenden Zwerghunds verlangt er eine Stellungnahme von der Verteidigerin. Es stellt sich heraus, dass er derjenige ist, der über die Befangenheitsanträge entscheidet. „Jetzt sofort!“, verlangt er wieder. „Und meine Stellungnahme soll ich in dasselbe Protokoll wie die Verhandlung hier diktieren?“, fragt die Verteidigerin. Das soll sie, und zwar schnell. Jetzt gibt es noch eine Unterbrechung, damit die Verteidigung ihre Stellungnahme schriftlich verfassen kann.

Fortsetzung (12:35)

Beide Befangenheitsanträge werden von dem Mann im rosa Shirt abgelehnt. Die Verteidigerin erkundigt sich, ob sie dazu eine Frage stellen dürfe. „Nein,“ bellt er im Hinausstürmen, „und es steht auch nicht in der StPO, dass Sie das dürfen!“. Wieder gibt es eine Unterbrechung, weil jetzt auch noch ein Befangenheitsantrag der Verteidigung gegen den Rosa-Shirt-Mann verfasst werden muss. Während die Verteidigerin schreibt, beschwatzt Richter Von Obenherab sie: „Was heißt »Das geht schnell« bei Ihnen? Wieviel Zeit brauchen Sie? Vorhin haben Sie sich nicht daran gehalten, und Sie haben länger benötigt. Antworten Sie mir!“

Fortsetzung (12:45)

Die Verteidigerin liest den Befangenheitsantrag gegen den Rosa-Shirt-Mann vor. Dieser habe nicht zur Kenntnis genommen, dass Richter Von Obenherab „egal, was die Frage war“ gesagt habe. Außerdem gehe nicht hervor die Stellungnahme ins Protokoll der Hauptverhandlung zu verfassen. Währenddessen werkelt ein Wachtmeister im Zuschauerraum an dem auseinandergenommenen Kleiderständer und setzt Teile davon zusammen.

Richter Gesamteindruck weicht als Zeuge weiterhin jeder Frage aus. Über eine halbe Stunde geht das so. Eine Zuschauerin vertritt sich zwischen den Stühlen die Beine. Ihr Outfit aus Ketten, Halbmond-Amulett und farbigen Tüchern sieht dabei fantastisch aus. „Ziehen Sie Ihr Oberteil wieder an und nehmen Sie Platz!“, befiehlt Richter Von Obenherab. „Dann gehe ich eben“, antwortet sie und schlendert nach draußen.
Richter Gesamteindruck bringt in seinen Zeugenaussagen inzwischen alles durcheinander, sogar das heutige und das damalige Verfahren: Da sei ein Konvolut an Anträgen gewesen, die er alle abgelehnt habe wegen Verschleppungsabsicht. An deren Inhalt erinnert er sich nicht. Vor oder bis zur oder während der Durchsetzung der Maßnahme gegen die Zuschauerin habe er den Raum verlassen. „Es hat Panik im Raum geherrscht in meiner Würdigung. Man hat versucht, weibliche Personen zu bekommen, um nicht den Eindruck zu vermitteln…“ Hier bricht er ab. Niemand ergänzt, dass die Verhandlung Ende Juli 2024 ausgerechnet in einen Zeitraum fiel, in dem Vorwürfe sexueller Übergriffe am AG Lingen öffentlich gemacht wurden. Ein Richter soll jahrelang seine Kolleginnen belästigt haben. Der übergriffige Richter war im April 2024 wegen Stalking, sexueller Belästigung, sexueller Nötigung und Körperverletzung angeklagt worden, und wurde ab August vom Dienst suspendiert. Auch Richter Von Obenherab, um dessen damaligen Vorsitzenden es geht, muss das wissen. Es ist also klar, was der Zeuge mit Panik meint: Cis Männer, die fürchten, ihre uneingeschränkte Macht zu verlieren.
Richter Gesamteindruck überlegt, wie er sich dieses Bild in seinem Kopf – „die Zuschauerin, Personen an ihr dran, kein Oberteil an“ – erklären kann. Er meint: „Ich habe mich zwischendurch mit der Protokollkraft unterhalten, als sich – nach meinem Dafürhalten – die Zuschauerin auszog.“ Hat er vor, während oder nach der Verhandlungsunterbrechung diktiert? Das kann er nicht sagen. Vielleicht war die Zuschauerin in diesem Moment auch schon nicht mehr anwesend. Er hat den ganzen Tag über kontinuierlich diktiert, sobald irgendetwas passierte. Er findet: „Die Protokollkräfte sind sehr vorbildlich. So macht man das!“

Richter Von Obenherab hängt schlapp auf seinem Stuhl. Gelegentlich kommentiert er die Fragen der Verteidigung spöttisch und zynisch. Anschließend wirft er dann ein: „Zynismus und Spott sind nicht angebracht“, und fügt dem spöttisch hinzu: „Wenn Sie das nicht lassen können, tut es mir leid.“ – „Sie sitzen auch einfach auf dem höheren Tisch, so sieht’s aus“, antwortet die Verteidigerin. Der Richter setzt sich auf. „Das ist richtig“, betont er. Es scheint ihm einen Moment lang wieder ein bisschen besser zu gehen.

Richter Gesamteindruck kann sich nicht erinnern, welche Gespräche mit dem Gerichtsdirektor oder Wachtmeister Schnüffel vor oder nach der Verhandlung geführt wurden. Natürlich spräche man als junger Richter darüber, was man zu erwarten hat bei so einer Verhandlung und macht oder nicht macht. Er habe im Vorfeld keine Kontrollen oder dergleichen angeordnet. Ein Strafverfolgungsinteresse habe er nicht, und selbst erst im Nachhinein den Rückschluss gezogen, dass die Zuschauerin wegen Hausfriedensbruch angeklagt worden sei. Er sei ja auch nicht der Direktor.

Abschließend stellt die Angeklagte noch eine einzige Frage. Alle Ohren sind plötzlich wieder wach, weil es um die spektakuläre lange blonde Lockenpracht des damaligen Angeklagten geht: „Die Frage brennt in mir: Haben Sie die Perücke wirklich, wirklich nicht erkannt?“ – „Das“, entscheidet der Zeuge, „hat nichts mit dem Beweisthema zu tun.“

Um 13:40 verlässt der Zeuge den Saal. Die Verteidigung regt an, Wachtmeister Schnüffel als Zeugen zu hören. Schließlich hat Richter Gesamteindruck immer darauf verwiesen, dass ihm Wachtmeister Schnüffel dieses oder jenes gesteckt hätte. Er konnte aber beim besten Willen nicht sagen, was die damalige Zuschauerin überhaupt gemacht hatte, bevor er sie aus dem Saal rausschmiss. Womöglich verletzte der Rauswurf schon materiell-rechtlich den Öffentlichkeitsgrundsatz. Dann liegt auch das Tatmerkmal von Hausfriedensbruch, „unbefugtes Verweilen“, nicht vor.

Die Verhandlung wird unterbrochen. Als fortgesetzt werden soll, hechtet eine Wachtmeisterin überstürzt in den Raum und beschimpft eine Zuschauerin: „Sie wissen genau, dass Sie sich erst durchsuchen lassen müssen, bevor Sie hier wieder reinkommen!“. Die Zuschauerin antwortet, sie habe den Raum nicht verlassen. Es wird klar, dass die Wachtmeisterin eigentlich eine Person mit Rollstuhl adressieren will und dazu diejenige Person anspricht, die den Rollstuhl schiebt. Sie hat aber nicht berücksichtigt, dass Menschen sich beim Schieben auch abwechseln können. Was die Wachtmeisterin so sehr stresst: Mit dem Aufzug ist es möglich, aus dem Eingangsbereich des Gerichts per Knopfdruck direkt ein beliebiges Stockwerk anzusteuern, ohne Halt im Durchsuchungsbereich im Foyer einzulegen. Deswegen sollen jetzt die Angeklagte selbst, die Person mit Rollstuhl und alle Taschen und Klamotten in greifbarer Nähe der Beiden durchsucht werden. Aus unerfindlichen Gründen besteht das Gerichtspersonal darauf, dass diese Durchsuchung ausschließlich im Foyer ein Stockwerk tiefer durchgeführt werden kann. Dazu tragen die Wachtmeister*innen die Angeklagte zu viert jeweils an einem Arm oder Bein packend nach unten.

Anschließend beantragt die Verteidigung zwei weitere Zeugen zu vernehmen: Wachtmeister Schnüffel und den Gerichtsdirektor. Letzterer war an dem Tag im Urlaub und hat erst im Nachhinein einen Strafantrag gestellt, ohne genaue Umstände zu kennen. Ohne einen wirksamen Strafantrag wird Hausfriedensbruch nicht verfolgt.

Für 10 Minuten wird die Verhandlung unterbrochen. Im Verhandlungsraum gibt es inzwischen nur noch wenig Beschäftigungsmöglichkeiten, weil bereits alle „Wachtmeister“-Schilder verschwunden sind. Auf den Fluren bleibt aber bei diversen abnehmbaren Hinweisschildern noch einiges zu tun.

Nach der Unterbrechung lehnt Richter Von Obenherab einen der beiden Beweisanträge ab, weil als wahr unterstellt wird, dass der Gerichtsdirektor nicht da war. Aber Wachtmeister Schnüffel soll vernommen werden. Obwohl er im Ruhestand ist, hat ihn das Gericht gleich erreicht. Sechs Minuten später ist er auch schon. Strahlend über das ganze Gesicht gibt Wachtmeister Schnüffel seine Anekdote zum Besten: Es sei sein letzter Arbeitstag gewesen. Bis spät sei er geblieben, um zu sehen, wieviel Leute sie noch bräuchten. Weit vor dem Vorfall hätten alle das Haus verlassen, die stellvertretende Direktorin mit den Worten: „Wenn was wäre, du hast das Hausrecht!“. Ihm sei hinten im Saal aufgefallen, dass eine Zuschauerin permanent mit ihrem Handy zugange war, versteckt in einer Mappe. Er sei deswegen hin zu Richter Gesamteindruck. Die Zuschauerin sollte den Saal verlassen, und habe sich gewehrt, indem sie ihren Pullover hochzog. Er und PHK Folgsam hätten versucht, Kontrolle und Ordnung herzustellen – aber: „Wir durften nichts machen!“. Er habe wen nach der Polizei geschickt. Er schließt mit: „Eine Polizistin und Wachtmeisterin haben die Dame dann mit sanfter Gewalt auf den Flur geführt.“
Wachtmeister Schnüffel antwortet voller Begeisterung auf jede Nachfrage: „Sicherlich habe ich den Vorfall beim Direktor dienstlich gemeldet, wie immer.“ Ein ausdrückliches Handyverbot habe es nicht gegeben: „Das ist allgemein so üblich.“ Als die Anwältin ihn informiert, dass an manchen Gerichten Handys durchaus erlaubt sind, kann er das nicht fassen. Empört ruft er aus: „Das wird es hier bei uns nicht geben!“. Wie detailreich Wachtmeister Schnüffel sich im Gegensatz zu den anderen Zeugen an den Tag erinnert, ist beeindruckend. Allerdings sprechen diverse Unwahrheiten dafür, dass er seine Story immer besser ausschmückte, je öfter er sie erzählte – einmal sogar für die Lingener Lokalzeitung.

Auf Wachtmeister Schnüffels Vernehmung folgt das Plädoyer der Staatsanwältin. Sie wiederholt ungefähr das, was sie anfangs schon aus dem Strafbefehl vorgelesen hat, erwähnt zusätzlich das Handy und fordert eine Bestrafung mit 30 Tagessätzen für Hausfriedensbruch (“ohne Befugnis verweilen, sich nicht entfernen auf die Aufforderung des Berechtigten”). Für die Ermittlung der Tagessatzhöhe gibt die Angeklagte an, Bürgergeld zu beziehen, mit Übernahme der Miete insgesamt ungefähr 700€. Richter Von Obenherab setzt 15€ als Tagessatz an.
Folgendes bringt die Verteidigung anschließend in ihrem Plädoyer ein:
Es liegt ein Verfahrenshindernis vor. Um Hausfriedensbruch zu verfolgen, fehlt hier ein Strafantrag. In die Verhandlung wurde nicht einmal ein Strafantrag eingeführt. Der Strafbefehl bezüglich des Gerichtssaals passt nicht zum Strafantrag des Direktors bezüglich des Gebäudes. Das ist voneinander abzugrenzen, denn für den Saal gilt die Sitzungshoheit des Richters, der unabhängig vom Direktor ist. Richter Gesamteindruck hatte zwar einen Saalverweis angeordnet, hat aber kein Strafverfolgungsinteresse. Für einen Strafantrag bezüglich des Gebäudes entscheidend ist das Verhalten der Angeklagten im Gerichtsflur außerhalb des Saals. Dazu wurden keine Beweise erhoben.
Sollte das Gericht kein Verfahrenshindernis sehen, bleibt: Im AG Lingen gilt grundsätzlich kein Handyverbot. Für die damalige Verhandlung gab es auch keine Sitzungspolizeiliche Anordnung. Das Handy mag vielleicht den Wachtmeister gestört haben, der Richter nahm es nicht mal wahr. Ein Störgefühl des Wachtmeisters reicht materiell-rechtlich nicht aus, um den Saalverweis zu begründen. Deswegen soll die Angeklagte hilfsweise freigesprochen werden.
Aus einer Raumecke drückt der Drucker seine Zustimmung durch lautes Rattern und Quietschen aus, und kriegt sich nicht mehr ein. Richter Von Obenherab ist irritiert. “Da ist eine Fehlermeldung”, verteidigt sich die Protokollkraft. Eine Zuschauerin hat während der Plädoyers die Reißverschlüsse ihrer Jacken schichtweise geöffnet und darunter nichts mehr an. Inzwischen ist das allen Anwesenden egal.

Dann geht es zurück in die Beweisaufnahme und der Richter verliest einen Strafantrag gestellt durch den Gerichtsdirektor. Die Staatsanwältin hat nichts dazu zu sagen. Die Verteidigung stellt die juristische Auseinandersetzung dar, die geführt werden muss (BGH 1982): Bei dem Saalverweis handelte es sich um eine sitzungspolizeiliche Maßnahme. Es ist ein Unterschied, gegen eine sitzungspolizeiliche Anordnung zu verstoßen oder gegen den Willen des Hausrechtsinhabers. Der Strafverfolgungswille vom eifrigen Gerichtsdirektor und von Richter Gesamteindruck („Nö!“) stimmen nicht überein. In so einer Konstellation findet das Gebäude-Hausrecht seine Grenze an den sitzungspolizeilichen Befugnissen des Richters, und die Sitzungspolizeiliche Maßnahme geht einer Bestrafung als Hausfriedensbruch vor. Allgemeiner Grund dafür, dass das Hausrecht verdrängt wird, ist die Unabhängigkeit der Richteris von der Behördenleitung zu gewährleisten. Nur so können Richteris ihrer Aufgabe nachkommen, nach ihrem pflichtgemäßen Ermessen eine öffentliche Verhandlung zu ermöglichen. Und wenn nach richterlichem Ermessen die Öffentlichkeit nicht mit Hausfriedensbruchvorwürfen und Strafverfolgung abgeschreckt werden soll, kann die Behördenleitung das nicht untergraben.

Außerdem gibt die Verteidigung noch eine Erklärung ab: 15€ Tagessatzhöhe bei Bürgergeld sei unsäglich. Menschen, die wie der Richter 3000-4000€ im Monat hätten, könnten welches zurücklegen. Mit 450€ ginge das nicht. Richter Von Obenherab seufzt sarkastisch: „An der Ungerechtigkeit in diesem Gerichtssaal wird die Welt zugrunde gehen!“

Das Letzte Wort der Angeklagten ist kurz. Sie erinnert daran, dass es bei der Verhandlung, auf die sich das alles bezieht, um Atomkraft ging, den Widerstand dagegen und um Protest für eine bessere und gerechtere Welt. Der gesellschaftliche Diskurs darüber, wie diese Welt aussehen kann, sei wichtig und sie fände auch sinnvoll, dass ein Teil dieses Diskurses im Gerichtssaal stattfindet. Aber worüber sie nicht vor Gericht diskutieren will, ist wie Menschen aus dem Saal geworfen werden.

Um 15:10 Uhr wird die Verhandlung zur Urteilsfindung unterbrochen. Die Anwältin der Angeklagten packt schon mal ihre Sachen, um ihren Zug zu bekommen. „Wie, und jetzt wollen Sie gehen?!“, fragt Richter Von Obenherab. Schließlich wird das Urteil in einen fast leeren Raum verkündet. Das Verfahrenshindernis wischt der Richter weg mit den Worten: „Manche sagen so, manche so.“ Die Strafe hat er gegenüber dem 60-Tagessätze-Strafbefehl um 40 Tagessätze erhöht auf 100 Tagessätze à 15€ mit der Begründung, dass die Angeklagte nicht, so wie er sich das fiktiv ausgemalt hatte, in innerlicher Reue mit einem stillen Geständnis den Strafbefehl akzeptierte. Jetzt wendet er sich an die Angeklagte: „Diese Geständnisfiktion entfiel durch Ihren Widerspruch. Im Gegenteil, Ihr Gebaren ist unverschämt. Sie haben keinen Anlass für Reue gesehen. Wie im Kindergarten sind Sie heute nicht durch die Einlasskontrollen gegangen und haben der Justiz den Arsch gezeigt!“. Dann äfft der Richter die Angeklagte nach: „Reich, arm, bla bla bla…“, und meint: „Dieses Narrativ zieht sich durch, aber bei den Reichen würde ich auch nicht die Miete berücksichtigen. Sinn und Zweck von Strafe ist, dass sie wehtun muss.“ Schließlich wendet er sich wieder an die Angeklagte und kommentiert deren Letztes Wort: „Sie halten die Sitzungsordnung für Kleinklein und die Prioritäten des Staates für falsch gesetzt. Das sehe ich anders.“ Seine Sichtweise konkretisiert der Richter mit einigen Floskeln über Justiz, Diskurs und Ordnung. Dann versucht er ohne viel Geschick zu schauspielern und sagt in der Rolle der Angeklagten in hochnäsigem Tonfall: „Das ist mir alles egal“.

Zum Glück ist das Urteil nicht der Abschluss des Tages. Im Hof des Gerichts findet noch eine Preisverleihung mit Gewinnen für alle statt. Dazu gibt es Kekse, die wie Nippel aussehen. Und was ist die Challenge für den nächsten Prozesstermin in Lingen? Einen BH so zu werfen, dass er oben an den Nornen hängen bleibt.

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