Vor dem Amtsgericht Lingen finden derzeit zahlreiche Prozesse gegen Atomkraftgegner*innen im Zusammenhang mit einer Blockade der Brennelementefabrik von Framatome im Januar 2019 statt. „Atomkraft brandgefährlich“ stand damals auf einem zwischen zwei Tripods über der Fahrbahn gespanntes Banner. Wenige Wochen zuvor hatte es in der Anlage, die Atomkraftwerke mit Brennelementen weltweit versorgt, gebrannt, uranhaltige Flüssigkeit trat aus. Angeklagt wurde aber nicht der Betreiber der Anlage Framatome ANF, sondern die Demonstrant:innen, die mit ihrer Aktion auf die Gefahren hinwiesen und die Abschaltung der Anlage, die trotz angeblichem Automausstieg unbefristet weiter laufen darf, forderten.
Zwei Amtsrichter haben die Strafbefehle der Staatsanwaltschaft mit dem Vorwurf der Nötigung gegen 16 Personen unterschrieben. Offensichtlich ohne dabei ihrer Aufgabe nachzukommen, die Vorwürfe sorgfältig zu prüfen. Möglicherweise in der Hoffnung, das Verfahren sofort vom Tisch zu bekommen, sollten die Angeklagten keinen Einspruch einlegen. Es kam aber anders. Die Beteiligten legten Einspruch ein.
Der erste Prozess fand im Frühjahr 2020 statt und endete mit Freispruch. Ein weiterer Prozess folgte vor zwei Wochen und endete nach einer 7-stündiger Verhandlung mit einem hart erkämpften Freispruch.
Am heutigen Tag erklärten dagegen Richter und Staatsanwältin bereits vor Beginn der Hauptverhandlung der Verteidigung, es sei beabsichtigt den Angeklagten frei zu sprechen.
Die Beweisaufnahme fiel entsprechend knap aus. Der Angeklagte lehnte eine Aussage zur Sache ab. Mit der Begründung, die Aussage eines Angeklagten habe vor Gericht kaum Beweiswert, ein Angeklagter dürfe die Unwahrheit sagen. Das Lügen überlasse er aber der Polizei. Es waren keine Zeugen geladen. Es wurde lediglich ein Teil des Beweisvideos aus der Akte vorgeführt. Dort war die Räumung der Demonstrant:innen zu sehen. Der Angeklagte war zu sehen, wie er am Fuß eines der beiden Tripods saß und erklärte, es halte die Stangen fest, um zu verhindern, dass die Demonstrant:innen oben auf der Konstruktion gefährdet werden. Es sei bereits vorgekommen, dass die Polizei ein solches Dreibein samt Person oben umgeworfen habe. Hinzu käme, dass der Fahrer der Maschine, mit der die Kletter:innen oben geräumt wurden, nicht die notwendige Qualifikation (Schein) zur Bedienung der Maschine mit Menschen auf dem Gabel besitze und ausweislich seiner Kleidung der rechten Szene zuzuordnen sei (Thor-Steinar-Logo auf dem Oberteil). Dies weckte gerade nicht das Vertrauen in eine sichere Räumung.
Hierfür interessierte sich der Richter nicht. Auch nicht für versammlungsrechtliche Fragen. Er wollte die Verhandlung so schnell wie möglich zu Ende bringen. Er schloss die Beweisaufnahme – trotz Widerspruch der Verteidigung.
Die Staatsanwaltschaft plädierte auf Freispruch. In seinem Schlusswort kritisierte der Angeklagte die schlampigen Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft. Das Verfahren diene der Ersatzbestrafung. Der Strafbefehl hätte nach Aktenlage niemals unterschrieben werden dürfen. Darin stehe bereits, dass der Angeklagte nach Aufforderung aufgestanden und gegangen sei. Es sei von vorne herein klar gewesen, dass es keine Nötigung sein könne. Die Staatsanwaltschaft solle statt dessen gegen die Polizei vorgehen, die rechtswidrig Gewalt anwende und immer wieder Versammlungen sprenge. Er übte schließlich Kritik an die Eingangkontrollen, die schärfer seien, als in einem Flughafen.
Der Freispruch erfolgte aus tatsächlichen Gründen.
Eine Sitzblockade ist keine Nötigung. Die Sicherung eines Tripods, damit die Personen oben nicht gefährdet werden, ist ebenfalls keine Nötigung. 10 Prozesse stehen in der gleichen Sache noch an.
Am Amtsgericht Lingen hält man allgemein wenig vom Grundrecht auf Versammlungsfreiheit. Die Polizei „sichert“ bei jeder Verhandlung den Innenhof gegen mögliche Demonstrant:innen.
Am heutigen Tag waren die Aktivist:innen jedoch schneller als von der Polizei erlaubt. Zwei Menschen haben einen Baum gegenüber vom Gerichtsgebäude am frühen morgen erklommen und zeigten Banner mit der Aufschrift „Stopp Repression“ und „Atomkraft brandgefährlich“.
Als die Kletter:innen herunter kamen, kam es bei einer Personalienfeststellung zu einer Eskalation seitens der Polizei. Der Betroffene erklärte, er sei bereit seinen Ausweis zu zeigen. Dafür wolle er aber zuvor die Rechtsgrundlage für die Kontrolle wissen. Es sei nicht verboten, in einem Baum zu demonstrieren und seine Meinung kund zu tun. Das Areal vor dem Gerichtsgebäude sei öffentlich zugänglich.
Die Polizei weigerte sich zunächst irgendeine Rechtsgrundlage zu nennen, um dann nach einigen Minuten eine „Verfügung“ wonach es verboten sei, in Bäume am Amtsgericht zu klettern, ins Felde zu führen.
„Wir wollen die Verfügung sehen“ sangen der Betroffene und die Prozessbesucher:innen lautstark. Unter dem Vorwand, diese befinde sich im Polizeiauto, lockte eine Polizistin den Demonstranten zum Funkstreifen.
Die „Verfügung“ entpuppte sich als ein loses Blatt Papier. Der Betroffene durfte den Text nicht einmal zu Ende lesen. Der Text war nicht vollständig, es fehlte mindestens die erste Seite. Es gab kein Datum darauf. Es war offensichtlich irgendein Blatt Papier und keine „Verfügung“. Eine „Verfügung“, um zu gelten, hätte öffentlich bekannt gemacht werden müssen.
Die Polizei setzte weiter auf Willkür. Der Versuch den Aktivisten ins Auto zu zwingen um ihn auf die Polizeiwache mitzunehmen scheiterte, als der Betroffene sich hinlegte und Prozessbesucher:innen eine spontane Sitzblockade veranstalteten und diese zu einer Spontanversammlung gegen Polizeiwillkür erklärten. „Nötigung“ schrie die Polizei… Mal wieder!
Die Lingener Polizei ist unbelehrbar, unreformierbar. Defund the Police!
Nachdem die Polizei die Personalien des Betroffenen schließlich überprüfen konnte, machten sich die Aktivist:innen auf dem Weg nach Hause.
Der nächste Prozess findet voraussichtlich am 15. Oktober 2020 um 9 Uhr vor dem Amtsgericht Lingen statt.